Warum brauchen wir Geschichten und Helden?

Seit Jahrtausenden werden Geschichte erzählt. Kleine Kinder hören ihren Eltern zu, erwachsene Männer sitzen am Lagerfeuer und lauschen den ebenfalls erwachsenen Erzählern; heute werden über Kino und Fernsehen täglich vier, fünf, sechs Geschichten erzählt und von Zuschauern aller Altersklassen aufgenommen. 

Meistens handeln die Geschichten von sehr dramatischen Ereignissen; Mord, Totschlag, Ungeheuer, Weltraummonster, Vergewaltigungen, Überfällen, jeder Menge Sex und Toten. Es wird gelogen, betrogen, verraten, geliebt, gehaßt, gerächt. Und: es gibt strahlende Sieger und jämmerliche Verlierer, in jeder Geschichte.

Warum brauchen wir Geschichten?

In Geschichten scheinen wir als involvierte Zuschauer die Schicksale der Helden mitzuerleben. Allerdings sind wir dabei in einem sicheren Raum, ohne Gefahr, daß tatsächlich der Terminator oder der Weiße Hai herein kommt, unser Kind an Krebs stirbt, unser Partner uns verläßt, eine Flutwelle unser Heim wegreißt, wir entdecken, daß wir von Außerirdischen gelenkt werden oder unser Vater ein Doppelleben als Agent führt. All das „erleben“ wir, ohne es zu erleiden. Weil wir in Sicherheit sind, zu hause, oder im Kino.

Warum gehen wir gerne in unser Stammlokal?
Weil wir uns dort auskennen und uns sicher fühlen. Sicher und geborgen.

Sicherheit und Geborgenheit. Nesttrieb. Heimat. Familie und Freunde. Eine überschaubare, verstehbare Welt. Ohne Angst. Das ist, was wir Menschen brauchen. Im Leben und in Geschichten.

TV-Serien. Immer wieder die selben Figuren in den gleichen Situationen, die immer nach dem gleichen Muster ablaufen. Und es funktioniert. Weltweit. Die Serien-Helden gehören zu uns wie unsere Freunde und unsere Familie. Das ist so. Weil wir so sind. Wir suchen Geborgenheit. Wenn es stürmt und wir sind draußen, stellen wir uns unter. Wenn wir in eine fremde Stadt kommen, tanken wir bei „unserer“ Tankstellenmarke. 

Einmal sah ich eine Star Trek Folge, die mir irgendwie nicht so gut gefiel, wie sonst. Am Ende stellte sich heraus, daß alle Hauptfiguren, die mir so unendlich vertraut waren, gar  nicht sie selbst waren sondern von einer Außerirdischen Intelligenz besessen waren und deswegen anders handelten, als gewohnt. Meine „Freunde“ waren plötzlich anders. Deswegen hat mir die Geschichte, obwohl sie gut konstruiert war, nicht gefallen. Weil sie mir das Vertraute und das Gefühl der Geborgenheit nicht vermittelte. Es war intelligent, aber es war nicht richtig.

Geschichten geben uns Geborgenheit. Was noch? 
Fast alle Geschichten haben eine Hauptfigur, einen Helden. Wozu brauchen wir Helden? Helden haben folgende Eigenschaft: sie sind Helden. Sie sehen gut aus, sind stark, tun immer das richtige, gewinnen ihre Kämpfe und besiegen ihre persönlichen Dämonen. 
Und wir Zuschauer? Wir haben die meisten dieser Eigenschaften auch, aber wir haben sie leider fast immer zum falschen Zeitpunkt. Wir können sie nicht abrufen, in der Situation, in der wir sie brauchen. Das ist schade.
Und wir haben eine wichtige Eigenschaft fast gar nicht, die ein Held im kleinen Finger hat: die Frechheit, Grenzen zu überwinden. Die Frechheit und – den Mut. 

Ein Held ist mutig und er setzt oft sein ganzes Leben aufs Spiel, selbst, wenn wirklich Alles gegen ihn spricht. „Die Chancen sind klein, unsere Lage ist hoffnungslos?“ hat Kirk mal gefragt. Und die Antwort selbst gegeben: das ist doch genau das, was wir immer am liebsten haben. 

Helden überwinden, sprengen Grenzen. Auch, wenn sie dabei selber alles verlieren könnten, sterben sie lieber für ihren Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit, aber aufrecht, als sich dem Bösen zu unterwerfen. Helden sagen NEIN! zum übermächtigen Feind. Einfach NEIN!

Das ist etwas, was wir in unserem normalen Leben auch öfter tun möchten, als wir es uns erlauben. 

Dafür brauchen wir Helden.

Zum einen, um das Gefühl, NEIN! zu sagen, wenigstens einmal schmecken zu können. Und schließlich, um uns daran zu erinnern, daß es das Wort überhaupt gibt, und das es – theoretisch – auch gesagt werden kann. Das wir Nein! sagen könnten. 
Nein. Um uns zu erinnern, das wir NEIN! sagen können!

Aber noch wichtiger ist etwas anderes. Noch wichtiger, als NEIN sagen zu können, also, als unser persönliches Trauma zu überwinden, ist, zu erkennen, daß es neben dem Klotz am Bein, den wir loswerden müssen, noch etwas gibt. Etwas, das unsere Filmhelden immer erreichen.

BILLY ELLIOT: I WILL DANCE. Der Junge erreicht, was er will. Gegen alle Widerstände. Durch seine Leidenschaft und seinen Einsatz und seinen Willen. Seinen unbeugsamen Willen, seinen tiefen Wunsch, zu tanzen. Was Billy erreicht, ist nichts anderes als sein LEBENSTRAUM.

Wir brauchen Helden, um zu erkennen und uns daran zu erinnern, daß es das gibt, daß es möglich ist, seinen Lebenstraum zu erreichen. Daran müssen wir erinnert werden. 
Dafür brauchen wir Geschichten und Filmhelden. Um uns zu erinnern, das wir JA! sagen können!