Tugenden 

Was ist ein Film? Ein Film erzählt eine Geschichte. In der Geschichte gibt es eine Hauptfigur und dazu einige andere wichtige Figuren. Die Personen sind alle miteinander verstrickt, es gibt meistens einen roten Faden, ein Hauptproblem, um das sich alles windet.  

Die Hauptfigur ist deshalb die Hauptfigur, weil sie sich entschließt, dieses Hauptproblem zu lösen. Im amerikanischen Film bedeutet das: das Ding wegpusten. So isser halt, der Amerikaner.  

Filmgeschichten spielen immer in irgendeinem Land und werden von Menschen aus ebendiesem Land gemacht. Somit spiegeln die Filme die Menschen des Landes. Und zwar die Tugenden, die Charaktereigenschaften, die mit diesem Land verbunden werden.  

In französischen Filmen wird viel auf Genuß, Lebensart, schöne Frauen und Verführung geachtet, Italiener haben immer einen großen Familienzusammenhalt und Ärger mit der Mama, in englischen Filmen stehen die Arbeiterklassemenschen mit ihren Freunden im Pub und fühlen sich trotz der Alltagssorgen im Kreis ihrer Freunde wohl.  

Der am meisten verbreitete Film ist der amerikanische Film. Warum? Die amerikanische Nationaltugend ist es, unmögliche Dinge zu schaffen, indem man sich anstrengt, sich richtig viel Mühe gibt und ganz fest an sein Ziel glaubt. Dann klappts.  

Zufälligerweise ist das genau der "amerikanische Traum".  

Der amerikanische Kinoheld ist allein.  
Er bemerkt eine Bedrohung, eine Unpäßlichkeit, ein Ungemach, ein Ärgernis, Kommunisten, Außerirdische, oder kleine Viren, die die Welt bedrohen. Alle anderen Menschen um den amerikanischen Kinohelden herum bemerken dasselbe, aber der Held entschließt sich als einziger, dagegen anzutreten.  
Also geht er los, der Bedrohung in den Arsch zu treten.  

Auf seinem Weg gewinnt er Mitstreiter, die ihm helfen.  
Er ist Teamfähig und hat Führungsqualitäten.  
Während die Bedrohung dann immer größer und größer wird, springen einige der Mitstreiter wieder ab oder werden getötet.  

Schließlich scheint die Bedrohung übermächtig. Und der Held ist plötzlich allein. Die Bedrohung hat scheinbar gewonnen.  
Doch trotz der Aussichtslosigkeit macht sich der amerikanische Kinoheld ganz alleine auf, die Bedrohung doch noch zu besiegen.  

Und er schafft es.  

So sind amerikanische Kinohelden und amerikanische Filme und Amerikaner. Das ist deren Sicht der Welt. Und weil wir alle gerne auch so wären, gucken wir gerne amerikanische Filme. Weil uns die amerikanische Nationaltugend irgendwie, wenn wir ehrlich sind, begeistert.  

Auch französische Filme sind nett, denn die französischen Tugenden sind auch nicht so schlecht.  

Hier kommt leider ein Problem angeflogen: was sind denn deutsche Tugenden? Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung. Zeigefinger und Oberlehrer.  

Alles sehr sehr anstrengend und überhaupt nicht lustig. Kann man eigentlich kaum einen Film draus machen.  

Leider ist es tatsächlich so. Im deutschen Film regiert oft der Oberlehrer.  

Es gibt Erklärungen und Begründungen und irgendwie kann man als Zuschauer immer ganz genau verstehen, warum die Filmfiguren eine solche Odyssee durchwaten mußten, um ihr sehr einleuchtendes Ziel zu erreichen.  

Dafür muß der Zuschauer aber auch immer gut aufpassen, damit er nichts verpaßt, was die Aktionen hinreichend erklären könnte. Am Ende folgt gerne eine Handlungsanweisung, wie man es besser machen kann, verpackt als Pointe. Aus deutschen Filmen kann man immer irgend etwas lernen!  

Schlußbemerkung  
Es muß etwas dazwischen geben, zwischen "wegpusten" und "belehren". Wahrscheinlich ist die treffendste Bezeichnung dafür: eine Aussage.  
So formuliert es C.P.Hant in seinem Buch Das Drehbuch (siehe Tipps), und so sehe ich es auch.

P.S. Am 12.12.2000 ist mir noch etwas eingefallen, und zwar die deutscheste aller Tugenden. Die deutsche Nationaltugend ist SCHULD. An anderer Stelle habe ich schon gesagt, daß mich am meisten bei einem Film interessiert, WIE etwas passiert. Ich glaube, das ist für einen Film entscheidend: zu zeigen, wie etwas passiert. Danach: WARUM es passiert. Die Frage nach der Schuld kommt in meiner Hierarchie an hinterletzter Stelle. Trotzdem ist – nach meiner Beobachtung vieler deutscher Filme – diese Frage oft die wichtigste, manchmal sogar die einzige Frage, die gestellt und beantwortet wird.

Ich halte das für falsch und mir gefällt es nicht.