Warum eigentlich gibt es so viele Regeln?

Wenn man einen Roman schreibt, setzt man sich an den Schreibtisch und schreibt. Seitenweise. Handlungen, Begebenheiten, Dialoglastige Kapitel, Betrachtungen über die Zeit, in der der Roman spielt, man fügt Rückblenden ein oder greift einen Nebenstrang auf und erzählt darüber einige Seiten. Das eine Kapitel hat acht Seiten, das nächste dreiundzwanzig, das folgende vier. Es gibt dünne Romane und dicke. (Das Parfum hat etwas über 300 Seiten, Hannibal hat über 500, manche Stephen King´s haben über 800 Seiten.) In manchen Romanen wird eine Geschichte erzählt, die über Jahrzehnte dauert (Buddenbrooks), manche Romane erzählen einen oder zwei Tage. 
Das scheint für die Autoren die grenzenlose Freiheit zu sein.

In Drehbuchseminaren und Drehbuchbüchern und auch auf dieser homepage dagegen steht andauernd: Du mußt das und das tun. Ein Drehbuch hat ca. 120 Seiten und auf Seite 30 ist der erste plotpoint. Es gibt 3 Akte. Du mußt dein Drehbuch um eine Hauptfigur bauen. Die Hauptfigur braucht ein Ziel und jede Menge Schwierigkeiten. Auf Seite xy gibt es eine Krise. 

Man könnte sich fragen: Ja, spinnen die denn alle? Ich möchte gefälligst erzählen was ich will, dafür bin ich doch wohl von Beruf freier Autor geworden, und da wollen die mir alle sagen, auf welchen von meinen Seiten was zu stehen hat? Wie kommen die dazu, mir so etwas vorzugeben?

Die Antwort ist ganz einfach, und sie kommt überraschenderweise von Sepp Herberger. Das Spiel hat 90 Minuten.

Deswegen gibt es Regeln. Weil die Zeit, die der Zuschauer mit der Geschichte verbringt, von vorne herein exakt auf die Sekunde genau festgelegt ist. 

Eine Filmgeschichte hat eine unverrückbare Dauer, braucht eine rhythmische Erzählweise und muß sich auf eine Hauptfigur konzentrieren, mit der der Zuschauer sich identifiziert. 

Ausnahmen gelten nur für Episodenfilme, in denen es keine einzelne Hauptfigur, sondern ein Hauptthema gibt.

Wozu braucht man diese ewige Identifikation? Weil ein Film eine sinnliche Erfahrung ist. Der Zuschauer sitzt ganz allein vor der Leinwand und wird so mit der Geschichte und der Hauptfigur verbunden, daß er (oder sie) das Gefühl bekommt, das Schicksal des Helden selbst zu erleben. Man fühlt als Zuschauer mit, man durchlebt die gleichen Ängste und Hoffnungen, die gleichen Gefühle, wie die Hauptfigur. Man verliebt sich in den Filmpartner, man haßt den Gegner, man fürchtet die Monster und man genießt das Glück. 

Einen Film sehen ist, selber in Schwingung zu kommen. Ein Film ist, wenn der Zuschauer in Schwingung kommt. Wenn das Herz brennt. Wenn der Bauch weh tut. Ein Film ist, wenn jeder kriegt, was er verdient.

Dafür brauchen Film und Drehbuch einen Rhythmus. Nicht 4/4-Takt, sondern: PP1 zwischen erstem und zweitem Akt, dann zweiter Akt, PP2, dritter Akt, Krise, Höhepunkt, Ende und aus.