Der „natürliche Zustand“ der Hauptfigur

Man muß in einer dramatischen Geschichte der Hauptfigur zu ihrem „natürlichen Normalzustand“ verhelfen.

Eine dramatische Geschichte funktioniert wie eine Psychoanalyse. Die Hauptfigur bemerkt, daß etwas mit ihrem Leben nicht in Ordnung ist und versucht, das zu ergründen und in Ordnung zu bringen. Zunächst scheint es sich nur um eine Äußerlichkeit zu handeln, doch je weiter die Geschichte und die Handlung voranschreitet, desto mehr wird die Äußerlichkeit zu einer Inneren Angelegenheit der Hauptfigur. Ein Beispiel dafür wäre ein Mann, der sich ständig mit seiner Ehefrau streitet und zunächst denkt, es gäbe ein Eheproblem, dann aber bemerkt, daß er selbst in Wahrheit schwul ist. Ganz am Ende, im Höhepunkt des dritten Aktes, muß sich der Mann dann zu seiner Homosexualität offen bekennen und der werden, der er wirklich (und schon immer gewesen) ist. (wenn er sich nicht bekennt, wäre er gescheitert, das gibt es natürlich auch, ist aber nicht so häufig in Geschichten.)

Schreibt man eine Kurzgeschichte, nur ein paar Seiten, wird die Entdeckung des Normalzustandes erzählt. Schreibt man eine lange Geschichte, etwa für einen Spielfilm, wird die stückweise Entdeckung und der Verwandlungsprozeß selbst erzählt. In beiden Fällen geht es darum, dem Leser (=Zuschauer) die Informationen in kleinen Häppchen zu geben, um Aufmerksamkeit und Spannung zu erzielen. In einem Thriller, bei dem die Hauptfigur durch eine „Böse Kraft“ bedroht wird, muß man entsprechend die „Wahre Natur“ und das Ausmaß des Bösen allmählich enthüllen (=enträtseln) und der Hauptfigur und dem Zuschauer erzählen.

Eine Hauptfigur ist eine Hauptfigur, weil sie eine Hauptfigur ist. In dem Universum, in dem die Geschichte spielt, ist die Hauptfigur tatsächlich die Wichtigste Person. Ohne diese Person ist das spezielle Universum nicht denkbar, ohne sie wäre es komplett anders. Deswegen ist es ganz natürlich, daß die Hauptfigur auch wirklich den Hauptpreis bekommt. Das bedeutet, man muß für das Universum der Geschichte, die man gerade schreibt, als Autor unbedingt und ganz genau wissen, was der Hauptpreis ist. 

Luke Skywalker ist eine besonders gut gebaute Hauptfigur. Für das Universum (diesmal sogar wortwörtlich!) ist er die wichtigste Figur, er ist (von Anfang an) in Wahrheit ein junger Jedi, weiß es noch nicht, wird es aber am Ende, und nur dadurch, daß er sein Schicksal akzeptiert, kann er es erfüllen und den Sieg erringen: erst, als er der „Macht“ wirklich vertraut und bei seinem Schuß auf den Todesstern die Augen schließt, kann er das Ziel treffen! Das war der Höhepunkt am Ende des Dritten Aktes: schießt er mit offenen Augen (wie der Schütze vor ihm, der verfehlt hat?) oder gibt er sich völlig der Macht hin und wird der, der er wirklich ist?

Wie viele Königskinder wurden als Säuglinge ausgesetzt, sind als Waisen in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und entdecken am Ende ihre wahrhaftige, königliche Abstammung, ergreifen den Thron und die Hand der Prinzessin? Wie viele Liebespaare kommen am Ende des Films zusammen und werden glücklich – weil es schon immer so hätte sein sollen? Weil es schon immer der Natürliche Normalzustand der Hauptfigur(en) war?

Eine Geschichte ist, die Hauptfigur an die Schwelle ihres verborgenen Lebenstraumes zu bringen und zu zeigen, wie sie sich entscheidet. 
Der Lebenstraum eines jeden Menschen ist: der zu werden, der man wirklich ist. Weil man dann frei und ohne Zwang existiert, in einem ständigen Fluß von Glück, Normalität, Leichtigkeit. So, wie jeder Tag sein sollte. Das ist auch ein Grund, warum man als Zuschauer gerne Filme sieht.

Ein Film ist dann am besten, wenn er als eigenständiges Werk existiert und nicht ein bildgewordener Roman ist. Selbstverständlich gibt es grandiose Romanverfilmungen, bei denen es gelungen ist, die besondere Atmosphäre der Geschichte kongenial in Bilder umzusetzen. Aber es gibt auch fürchterliche Versenker, ganz einfach, weil eine Romangeschichte nach Gesetzen funktioniert, die nicht zwingend in eine Filmfassung übertragbar sind. Umgekehrt ist es genauso: ein toller Film, zum Beispiel DUELL von Spielberg, wäre als 400-Seiten-Roman schwer vorstellbar. LOLA RENNT ist ein lustiges, gelungenes Experiment über den Zufall. Würde man den Film Szene für Szene abschreiben, käme wahrscheinlich ein doofer, gekünstelter Roman dabei heraus. Als Film jedoch funktioniert´s, zumindest beim ersten Ansehen.

ALIEN – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt. Als Film ist es ein Meilenstein, der dazugehörige Roman ist niveauarmer Sci-Fi-Durchschnitt. GREMLINS wäre als Buch unlesbar. Das echte Geräusch des Laserschwertes aus KRIEG DER STERNE gibt es einfach nur im Kino, ist für ein Buch nicht übertragbar.

Gleichzeitig ist PER ANHALTER DURCH DIE GALAXIS in der Filmfassung allenfalls skurril und wirkt dann am besten, wenn die absurden Gags 1 : 1 aus dem Buch übernommen werden. Die Vorstellung eines zweiköpfigen Zaphod Beeblebrox (allein der Name ist es wert, andauernd vollständig gelesen zu werden) ist einfach viel lustiger, als die filmgewordene Darstellung des Schauspielers in seiner Maske.

Ein Film ist dann am besten, wenn seine Geschichte, sein Stoff, die sinnlichen Möglichkeiten des Kinos nutzt.

Wenn man leidenschaftliche Hauptfiguren erschafft, die durch ihr Aussehen, ihre Präsenz, durch ihre augen- und ohrenbezaubernde Wirkung die Zuschauer fesseln. Wenn man in Harmonicas Augen blickt, am Ende von „Spiel mir das Lied vom Tod“, dann weiß man, was eine Kinogeschichte ist. Wenn man in DIE VÖGEL der rauchenden Tipi Hedren zuschaut, die vor der Grundschule wartet, und dabei den Vögeln zuschaut, die sich lautlos sammeln, während im Klassenraum die schrecklichen Kinder immer wieder den dämlichen Kindersong trällern, dann überträgt sich eine rasende Anspannung; wenn man Clarice Starling in das Verlies von Buffalo Bill folgt und sie dabei mit dessen Augen sieht, beinah berühren kann, dann überträgt sich das Gefühl auf der Leinwand.

Film schreiben ist einfach, wenn man versteht, was es bedeutet. Man muß ein Gefühl spüren, in einen Konstruktionsplan namens Drehbuch übertragen, und zwar so, daß das gespürte Gefühl im Zuschauer wieder erweckt wird.

Man muß Sinnliche Geschichten in Bildern schreiben.