Die Hauptfigur

Die Hauptfigur ist die Person, für die am meisten auf dem Spiel steht. Die Hauptfigur verkörpert das emotionale Zentrum der Geschichte.

Rein äußerlich ist die Hauptfigur die Person, die an den plotpoints entscheidend eingreift und sowohl ihrem eigenen Leben als auch der Handlung (dem plot) eine neue Richtung gibt. Die Hauptfigur trifft Entscheidungen, führt sie herbei, geht auf sie zu, stellt sich Herausforderungen und kämpft. Zuerst für die Sache (das Ziel der Handlung), später für die Sache und, um dieses erweitert, für das persönliche Lebensziel der Hauptfigur.

Hier gibt es schon einen wichtigen Hinweis: die Hauptfigur muß ein persönliches Lebensziel haben. Nicht jede Figur im Film hat ein spezifisches, herausgearbeitetes und für den Zuschauer deutlich gemachtes Lebensziel. 

Im „wahren Leben“ würde man, wenn man die Leute auf der Leinwand mal treffen würde, von jedem dessen Lebensziel früher oder später erfahren. Im Film dürfen sie leider nicht alle von sich soviel persönliches preisgeben. Damit sie die Hauptfigur nicht verdecken.

Die Hauptfigur hat also ein persönliches Lebensziel.

Jeder Film, jede Geschichte und jede Handlung hat einen Kern, um den sich alles dreht. Ein Thema, eine Seele. Beispiele dafür sind Überwindung von Einsamkeit, Eltern-Kind-Konflikt, Liebe, Rache, der Zusammenprall unterschiedlicher Weltanschauungen, die Suche nach der Wahrheit oder nach einem Erfolg, Selbstverwirklichung. Die Beantwortung einer ethisch bedeutsamen Frage (z.B. darf man Menschen klonen?).

Wenn wir jetzt einen Wissenschafts-Thriller als Beispiel nehmen, in dessen Handlung die Wissenschaftler versuchen, einen Menschen zu klonen, dann gibt es in diesem Film in der Besetzungsliste bzw. in der Liste der Figuren oder Charaktere Haupt- und Nebenfiguren. Es gibt üblicherweise den großen genialen Obercrack, den Auftraggeber im Hintergrund, die Assistenzwissenschaftler; in der Gruppe bilden sich meist zwei Parteien, die untereinander unterschiedlicher Auffassungen sind, in jeder Gruppe bildet sich ein Wortführer heraus.

Zunächst könnte jede dieser Figuren die Hauptfigur des Thrillers werden. Aber was macht jetzt z.B. den zweiten Assistenzwissenschaftler zur Hauptfigur? Oder den genialen Obercrack? Oder einen Journalisten/ Privatdetektiven/ ermittelnden Kommissar, der von außen auf dieses Ensemble trifft und die Handlung in Gang setzt? 

Als erstes mal genau dieses: die Hauptfigur setzt die Handlung in Gang. Aber warum tut sie das denn überhaupt? Im wahren Leben könnte das aus einem puren Zufall geschehen, zum Beispiel, weil der Journalist ganz zufällig in einem Müllcontainer auf geheime Unterlagen stößt und recherchiert. Sozusagen aus Versehen.

Aber das wäre für eine starke, dramatische Geschichte ein schwacher Antrieb für eine Hauptfigur, wenn sie das, was sie tut, nur aus Versehen beginnt.

Eine starke Hauptfigur ist eine starke Hauptfigur, weil sie von dem plot, von der Handlung, von dem plot-Problem im Inneren persönlich betroffen und berührt wird und das Thema als persönliche Lebensfrage mit sich „seit Anbeginn der Zeit“ herumträgt
Und weil sie von der Handlung durch Ereignisse der Handlung persönlich berührt wird. Dadurch steht für die Hauptfigur durch das Lösen des plot-Problems nicht nur dieses auf dem Spiel, sondern für die Hauptfigur steht einfach ALLES auf dem Spiel.
Es ist also erneut die Frage nach der persönlichen Betroffenheit. Die Figur, die bei Problematik und Thema am meisten persönlich involviert ist, ist die Hauptfigur.

Um das zu erreichen, muß man als Autor eine Hauptfigur künstlich erschaffen. Die ist nicht einfach so da, mit allen normalen Stärken und Schwächen eines „echten“ Menschen aus dem „wahren“ Leben.

Luke Skywalker ist irgendein Bursche auf irgendeinem Planeten, aber er ist auch der Sohn von Darth Vader und der letzte Nachkomme der echten Jedi-Ritter. Er ist nicht irgendwer, sondern er ist für den Film und das ganze Universum die Hauptfigur.

Clarice Starling ist irgendeine F.B.I.-Akademie-Absolventin, eigentlich eine kleine Studentin. Aber in dem Film ist sie die Person, die unbedingt die schreiende Kathrin Martin retten muß um sich selbst zu heilen und für Kathrin ist sie die Einzige Chance, am Leben zu bleiben.

John Book (DER EINZIGE ZEUGE) ist für den kleinen Amish-Jungen die einzige Chance, am Leben zu bleiben und und für das Thema des Filmes: Großstadt vs. Landleben der perfekte unglückliche, einsame, hektische Großstadtfreak, während Rachel die perfekte Partnerin und Verlockung für ihn ist.

Betty Blue muß am Ende sterben, weil ein Leben in Fesseln für eine Frau wie sie keine Alternative ist.

Rick Deckard (BLADE RUNNER) ist für die Frage/ das Thema des Films: sind Androiden lebendig? perfekt, weil er selber einer ist.

Eine Hauptfigur trägt das Thema des Films in sich und sie löst das plot-Problem. 

Während der Film abläuft, wird das immer deutlicher. Die Hauptfigur offenbart immer mehr von sich selbst, legt sich selbst bloß, und offenbart dadurch immer mehr vom eigentlichen Thema, vom Herz des Films.