Die Wahrheit über dramatische Geschichten

Die Wahrheit über Geschichten ist, daß es darum geht, etwas Abstraktes konkret zu machen. Es geht darum, ein Gefühl zu vermitteln. Das geschieht, indem der Autor zwei konträre menschliche Grundhaltungen (auch innerhalb der Hauptfigur) miteinander in Konflikt geraten läßt.

Die Kunst und das Geheimnis einer fesselnden Geschichte ist, daß es nicht um die Handlung der Geschichte geht, nicht darum, was äußerlich passiert, sondern darum, was innerlich passiert und was dadurch mit der Hauptfigur geschieht, weil man sich als Zuschauer bzw. Leser mit der Hauptfigur identifiziert und so das Gefühl, die Gefühlskurve, das Wechselbad der Gefühle der Hauptfigur, selbst durchlebt. Dadurch werden die Gefühle der Hauptfigur, die von einem Schauspieler mit Hilfe von künstlichen Szenen und Filmsets vorgespielt werden, zu echten Gefühlen im Zuschauer und dadurch erlebt der Zuschauer etwas, obwohl er eigentlich nur in seinem Sessel sitzt und zusieht. Der Zuschauer hat eine sinnliche Erfahrung, die sich von einer echten Erfahrung kaum unterscheiden läßt. Obendrein dazu kann der Zuschauer so Dinge erleben, die er im wahren Leben meistens nicht erlebt. Extreme Erfahrungen wie einen-Mord-begehen, von-einem-Mörder-gejagt-werden, sich-unsterblich-verlieben, das-Universum-retten, mit-drei-Partnern-gleichzeitig-Sex-haben gehören zu den Erfahrungen, die im Alltag der meisten Zuschauer eben nicht alltäglich sind.

Im Ersten Akt wird die Hauptfigur in ihrem Alltag so gezeigt, wie sie „normalerweise“ ist und was sie „normalerweise“ für ein Lebens-Gefühl, für eine Einstellung der ganzen Welt gegenüber, verkörpert. Der Erste Akt dient dazu, die Haltung der Hauptfigur deutlich zu machen. Der Erste Akt muß dazu benutzt werden!!

Im Zweiten Akt lernt die Hauptfigur allmählich ein neues Grundgefühl kennen. Die Hauptfigur macht eine für sie grundlegend Neue Erfahrung. Sie lernt ein ganz Neues Lebensprinzip, ein ganz Neues Konzept kennen. In der Mitte des Zweitens Aktes begreift die Hauptfigur, daß ihr bisheriges Lebensprinzip und das Neue Lebenskonzept tatsächlich und wirklich und wahrhaftig beide gleichzeitig nebeneinander in ihrem eigenen Leben existieren können, daß beide Konzepte, die grundlegend unterschiedlich sind, im Leben der Hauptfigur vorkommen. Die Hauptfigur begreift, daß sie dabei ist, ihr bisheriges Lebenskonzept mit dem Neuen Lebenskonzept zu vergleichen. Am Ende des Zweiten Aktes möchte die Hauptfigur ihr altes Leben gegen das Neue einfach eintauschen. Doch es geht nicht. Es klappt nicht. Warum? Weil die Hauptfigur sich noch nicht geändert hat und das Neue Leben noch nicht verdient hat. Die Hauptfigur muß sich erst noch würdig erweisen, damit sie das Neue Leben haben darf. (außerdem traut die Hauptfigur dem Neuen Leben auch noch nicht so recht...) 

Dazu muß sie in den Dritten Akt und, erstens, das Neue Lebenskonzept ausprobieren und zweitens, beweisen, daß sie es auch hinkriegen kann. Dazu muß sie kämpfen. Sie muß dem neu kennengelernten Gefühl blind vertrauen und damit sich selbst und dem Zuschauer beweisen, daß sie, entgegengesetzt zu ihrer früheren Überzeugung (aus dem Ersten Akt) ihre Angelegenheiten mit einer neuen Art der Vorgehensweise angeht. 

Analog dazu ist es bei Spannungsfilmen, Thrillern oder Actionfilmen oft nicht eine andere Haltung, sondern schlicht Der Feind. Der Feind scheint am Ende des zweiten Aktes zu siegen und im Dritten Akt rafft sich die Hauptfigur auf, ihn doch noch kleinzukriegen. Dazu braucht die Hauptfigur eine magische Wunderwaffe, an die sie früher nicht geglaubt hat oder die ihr früher nicht zur Verfügung stand. Dabei muß man als Autor bedenken: einfach so irgendeine magische Wunderwaffe aus dem Hut zaubern ist ziemlich einfallslos. Wenn man so eine Lösung braucht, muß man richtig gute Idee kombinieren!!! Tatsächlich ist es oft eine Kombination aus „Wunderwaffe“ und Neuer Haltung, die den bzw. die Heldin zur Lösung bringt.

Da es darum geht, von einer Haltung bzw. Stimmung zu einer anderen Haltung bzw. Stimmung zu gelangen, hilft es, gegensätzliche Paare zu bilden, um sich als Autor damit auseinanderzusetzen und anzunähern. Es gibt die Paare Hell-Dunkel, Oben-Unten, Mutig-Ängstlich, Gut-Böse, Reich-Arm, Groß-Klein, traurig-froh. Soweit scheint es erstmal einfach, die Reihe fortzusetzen. Aber es gibt schon so viele Geschichten, in denen es um einen armen Schlucker geht, der am Ende reich wird, oder um einen Ängstlichen, der mutig wird. Okay, wenn es sehr gut gemacht ist, wie bei Pretty Woman zum Beispiel, dann kann auch aus einem einfachen Paar ein toller Film werden. Aber man kann auch nach weniger klaren Paaren suchen, zum Beispiel egozentrisch und ..., tja, was ist das Gegenteil von egozentrisch? Besser geht's nicht als Jack Nicholson es in dem Film dargestellt hat. Das Gegenteil kann man nicht mit einem einzigen Wort beschreiben (oder doch?), es ist jedenfalls ungefähr liebevoll-warm-aufmerksam-nett. 

Dieses Spiel, Gegenteile-Finden, kann man immer spielen, wenn man dazu Lust hat.

Die Entwicklung und Veränderung der Stimmung ist, was Geschichten interessant macht. Das ist das Geheimnis, mit dem man als Autor, als Dramatiker, Gefühle vermittelt. Man erzeugt eine Stimmung, stellt eine zweite Stimmung daneben, „vergleicht sie“ und beschreibt den Kampf der Hauptfigur, die zwischen beiden Stimmungen hin und her gerissen wird. 

Wenn man das versteht, kann man aus Allem eine gute Geschichte machen. Ob sie interessant wird, hängt von der Phantasie und dem Können des Autors ab. Ein Bildhauer kann aus jedem Material, ob Ton, Holz, Butter, Granit, interessante Formen herstellen. Er kann auch in den Wald gehen und einfach eine große Wurzel nehmen und ein wenig bearbeiten, bis eine interessante Form herauskommt. Die Kunst ist, die Form schon beim ersten Entdecken zu sehen. Wenn man dafür das „magische Auge“ hat, spürt man, aus welcher Form bzw. welcher Idee man was für eine Geschichte herausarbeiten muß. Muß!! Nicht kann oder soll oder darf. Muß. Weil die endgültige Form schon in der ersten Idee enthalten ist, und die kann man nicht verändern. 

 

Donnerstag, 3. Januar 2002, 09:35