Interview mit Michael Gutmann


Michael Gutmann ist Drehbuch-Autor, Regisseur und Lehrer. Mit seinem Freund Hans-Christian Schmid hat er unter anderem die Filme "23 - Nichts ist wie es scheint", "Crazy", "Lichter", "Herz im Kopf" und viele andere hergestellt. Sie arbeiten zur Zeit an der Adaption des Romans „Krabat“.

Ich traf Michael Gutmann auf der IFS in Köln während eines sehr inspirierenden Seminars. Er hat vor allem darauf hingewiesen, dass Geschichtenschreiben aus einem kreativen und einem analytischen Teil bestehe. Man müsse beide Teile getrennt voneinander behandeln, weil sonst das eine das andere behindern, sogar verhindern könne. Michael Gutmann nennt diese Vermischung der beiden Teile einen der häufigsten Fehler beim Entwickeln von Drehbüchern – und beim Unterrichten. Es ist die mangelnde Fähigkeit, kreative Prozesse eines Autors oder einer Autorin zu unterstützen und Erfolgserlebnisse zu vermitteln.

Frage: Was ist eine Geschichte?

Gutmann
: Eine Geschichte ist zum Beispiel eine Aneinanderreihung erinnerungswürdiger Taten, also ein Epos, das eine Zeit, einen Ort oder eine Gruppe von Menschen schildern soll. Eine Geschichte im Sinne eines dramatischen Drehbuches ist ein Charakter unter Druck. Das kann tausend Ausprägungen haben. Es gibt Märchen, es gibt Kitsch- Geschichten, es gibt Hochliteratur, es gibt alle möglichen Formen, Geschichten zu erzählen. In den meisten Fällen sind das eine Kette von Enthüllungen und sich steigernden Konfliktsituationen, die den Weg eines Charakters zu seinem Ziel schildern.

Viele Filme behandeln „große“ Themen, und manchmal verblassen dahinter die Charaktere...

Gutmann: Wie wichtig sind die Charaktere? Man muss aufpassen, dass man nicht Regeln aufstellt, und dann ein Berufsanfänger denkt, ich muss mich an diese Regeln halten, sonst habe ich etwas falsch gemacht. Was ist überhaupt falsch und was ist richtig?

Ich versuche immer zu sagen: Gehen Sie gut um mit ihrer Kreativität, pflegen Sie diesen Garten, vertrauen Sie ihrer Kreativität. Bei manchen Leuten kommt das eben von Themen, zum Beispiel, ich möchte was machen über Arbeitslosigkeit. Dann gibt's Filme, die beginnen mit einem Ort, da ist jemand fasziniert von einem Ort und möchte den schildern, oder ein Ort und eine Zeit, das gibt es sehr oft, wie zum Beispiel Rom, offene Stadt. Ein Film, der zu einer ganz bestimmten Zeit, nämlich direkt nach dem Krieg, in Rom spielt und der die Schicksale von Menschen dort schildert. Oder der Ausgangspunkt ist ein bestimmter Charakter, so wie der Matratzenverkäufer in dem Film Lichter. Diese eine Episode wurde wegen des Charakters geschrieben, nicht so sehr wegen des Ortes. Die Episode mit dem polnischen Taxifahrer ist beides: Der Ort UND die Figur, die dort lebt. Es gibt also viele Ausgangspunkte, warum man beginnt, eine Geschichte zu erzählen, das lässt sich nur sehr schwer begrenzen und schon gar nicht zu einer Regel machen. Wichtig ist, dass diese Quelle, aus der der Wunsch kommt, die Geschichte zu machen, nicht versiegt, dass sie nicht zubetoniert wird.

Wichtig ist, dass die Quelle, aus der die Geschichte stammt, nicht zubetoniert wird.

Es passiert Autoren oft, dass die Leute, die ihnen helfen wollen, oder Ratschläge geben, aus Versehen auf der Quelle rumtrampeln. Da muss man aufpassen, als Anfänger, dass einem nicht der Mut abhanden kommt. Der Weg zu einem 90- Minuten- Drehbuch ist lang, und man benötigt seine ganze Kraft dafür.

Welche Möglichkeiten gibt es, sich diese Kraft besser einzuteilen?

Gutmann: Wenn die Geschichte als Exposé einigermaßen feststeht, beginnt man sie in kleinere Einheiten zu zergliedern, als bestünde sie aus lauter Kurzfilmen. Man macht zum Beispiel aus seiner Geschichte acht Handlungsblöcke und nennt sie Sequenzen. Das vermindert den Kummer mit der Riesenstrecke eines langen Kinodrehbuches erheblich. Man baut mehrere Akte, und diese Akte bestehen aus mehreren Sequenzen, und eine Sequenz besteht aus mehreren Szenen. Das schafft Klarheit und Aufbau.

Aber das sind alles unsichtbare Verabredungen, die der Zuschauer hoffentlich gar nicht wahrnimmt, also, es existiert nicht, ich nenne das immer virtuell. Keiner von den Schauspielern im Film trägt ein Pappschild an der Kamera vorbei, wo drauf steht: „Beginn des 2. Aktes“.
Es ist nur eine Arbeitshilfe, mehr nicht. Es sind diese virtuellen Linien in einer Geschichte, die man einzieht, um überhaupt über die Geschichte reden zu können. Anschließend radiert man diese Linien wieder weg, denn die Geschichte soll wirken, als wäre sie aus einem Guss. Diese unsichtbare Struktur ist sehr nützlich beim Schreiben. Aber es kann einen auch anfangen zu terrorisieren, wenn man zuviel über Drehbuch- Theorie liest und sich zu sehr damit beschäftigt. Es kann passieren, dass das umkippt und man nur noch analytisch denkt. Dann ist die Kreativität ziemlich schnell blockiert. Die Quelle scheint zu versiegen. Aber das stimmt nicht. Wir haben nur den Kontakt zu ihr verloren.

Man muss lernen, Analyse und Kreativität zu trennen. Das geht manchmal nicht am selben Tag, oder zur selben Stunde, dass man über eine Geschichte, die man geschrieben hat, analytisch nachdenkt und versucht, sie zu verbessern, und über Lösungen nachzudenken. Gute Einfälle und neue Ideen sind sehr scheu. Sie laufen weg, wenn man immer nur mit der Analyse- Keule auf den Tisch haut. Drehbuchanalyse hängt mit logischem Denken zusammen, Kreativität hängt mit assoziativem Denken zusammen, mit Emotionen, mit Erinnerungen, irgendwelche Erinnerungen von anderen Leuten oder von einem selbst. Warum ein Drehbuch- Autor oder ein Roman- Autor um Himmels willen auf die Idee kommt, dass eine Figur eine Menschenleber isst, oder warum jemand auf die Idee kommt, dass jemand die Liebe seines Lebens sucht, das ist schwer zu sagen. Das sind Dinge im Unterbewussten, oder im Hinterkopf, das sind einfach Erzählwünsche. Man muss das respektieren, man muss sagen, das ist eben so bei diesem Autor, oder bei dieser Autorin. Das kann man, glaube ich, nicht in Frage stellen, denn das ist die kreative Seite. Die andere Seite ist das gemeinsame Besprechen, wie man eine Geschichte möglichst geschickt verbessert. Dieses Besprechen und Nachdenken sollte nicht Geschmacksurteile fällen, sondern es sollte darauf abzielen, den Erzählwunsch des Autors zu stärken und ihn besser zu veräußerlichen. In den meisten Exposés und Treatments, die ich lese, sind die Gedanken der Autoren noch nicht wirklich nach vorne geschoben.

In den meisten Exposés und Treatments sind die Gedanken des Autors noch nicht wirklich nach vorne geschoben. Sie sind wie Schätze, die man noch heben muss. Deswegen bemühe ich mich, die Dinge von verschiedenen Seiten zu betrachten, um die Wirkung eines Einfalls zu erhöhen.

Sie sind wie Schätze, die man noch heben muss. Deswegen bemühe ich mich auch solange wie möglich, die Dinge, die in einem Exposé stehen, von verschiedenen Seiten zu betrachten, vielleicht umzustellen, vielleicht anders zu benutzen, manchmal nur unter andere Vorzeichen zu stellen, um den Autoren damit zu zeigen, wie man die Wirkung eines Einfalls erhöht. Nehmt die Sachen nicht so hin, wie sie sind; ein Junge, der ein Fahrrad zum Geburtstag geschenkt bekommt, das kann der schönste oder der schrecklichste Tag in seinem Leben sein. Es kann beides sein, unter entsprechenden Vorzeichen. Das Fahrrad kann bedeuten: Endlich bin ich frei und darf losradeln. Es kann aber auch bedeuten: Jetzt muss ich den Job machen, den bisher mein älterer Bruder gemacht hat und der dabei zu Tode kam. Das ist die Macht des Geschichten- Erzählers.

Wenn man schreibt, strukturiert man oft um, weil man denkt, es ist hier und da spannender, und am nächsten Tag arbeitet man weiter und da fällt einem wieder etwas Neues ein, was aber nicht unbedingt viel besser ist, und dann vermischt sich das kreative und das analytische, und plötzlich entdeckt man auch ein ganz neues Thema, was auch spannend und wichtig ist, und dann denkt man: oh, jetzt bin ich mir aber selber auf die Schliche gekommen, das will ich ja eigentlich erzählen. So findet man dann immer mehr, was man nicht von Anfang an gesehen hat. Aber wie findet man denn heraus, wann weiß man: hier, das ist jetzt meine Geschichte, die ich erzählen will, und das andere erzähle ich dann das nächste Mal?

Gutmann: Eine typische Erfahrung. Ich nenne sie „woanders ist das Gras grüner“. Das heißt: Wenn man Schwierigkeiten im Weiterentwickeln seiner Geschichte hat, kommt so ein kleiner Teufel im Gehirn auf eine viel bessere Idee. Er flüstert: „Versuchs doch mal mit einer anderen Hauptfigur, oder warum nicht gleich eine ganz andere Geschichte?“ Man schreibt dann ein paar Tage lang diese neuen, viel besseren Ideen auf, bis man dort auch wieder auf Schwierigkeiten stößt. Das ist ein gefährliches Labyrinth, das führt manchmal dazu, dass man monatelang zwischen zwei, drei Geschichten hin und her pendelt bis man keine Kraft mehr hat und den Schreibtisch entnervt verlässt. Aber diese Unentschlossenheit ist normal. Das ist die Frage, für welche Geschichte lohnt es sich, diesen mühsamen monatelangen Weg zu gehen? Welche Geschichte ist es Wert, dass ich so lange daran arbeite?
Die Antwort findet man nur durch Bestätigung, und da kann ich dem Nachwuchsautor, oder der Nachwuchsautorin nur wünschen, dass sie von Leuten umgeben sind, die sie kennen und die sie einschätzen können und die beurteilen können, ob der Stoff dieses jungen Autoren zu ihm passt und ob er den stemmen kann. Es ist nichts schlimmer als falsche Ratschläge, falsches Lob oder falsche Kritik. Das Spiel mit dem Gras, das woanders grüner ist, muss in dem Moment aufhören, wo man spürt, dass diese Figur, die man da erfunden hat, am Leben sein will. Man hat dann eine Verantwortung. Die Figur hat Respekt verdient. Man sollte zumindest ein fertiges Exposé hinbekommen, es müssen ja nicht mehr als 10 Seiten sein, damit diese Figur eine Chance bekommt und leben darf. Und dann kann man es weglegen, man kann sagen, mir fehlen da ganz entscheidende Einfälle, die kommen vielleicht erst in einem Monat oder in einem Jahr, das spüre ich, dass ich die Geschichte jetzt nicht weiter schreiben kann.

Die erste Fassung seiner Geschichte sollte man unbedingt aufbewahren, weil sie einen besonderen Kick hat. Und wenn man irgendwann mit seiner Geschichte nicht mehr weiterkommt, muss man mithilfe dieser ersten Fassung wieder herausfinden, was das war.

Was ist das Besondere daran, wenn man das liest? Dieses Spontane, Unbeschwerte, Lebendige. Das geht manchmal in der Stoffentwicklung verloren, und das geht leider auch etwas verloren durch Schulmeisterei. Deswegen ist es eine gute Idee, den allerersten unbeschwerten Impuls, wo man sich um überhaupt nichts geschert hat, gut aufzuheben.

Back to the roots, sozusagen.

Ja, genau. Und der zweite Vorschlag, den ich einem Nachwuchsautor machen würde, ist, zu trainieren, eine Geschichte so oft wie möglich jemandem zu erzählen und dabei genau aufzupassen. Wie früher die Leute am Lagerfeuer Familiengeschichten weitererzählt haben, oder Geistergeschichten. Die haben natürlich durch dieses mündliche Übertragen gelernt, was einen Zuhörer fesselt, und wo ein Zuhörer Fragen stellt. Wo ein Zuhörer abschaltet, hüstelt, wegguckt, plötzlich anfängt, in der Fernsehzeitschrift zu blättern, oder nach dem Bier zu schielen.

Sie haben mich gefragt, was ist eine Geschichte und, noch wichtiger, als das, was ich gesagt habe, ist vielleicht: eine Geschichte ist ein Kontaktvorgang mit einem Gegenüber.

Eine Geschichte ist ein Kontaktvorgang mit einem Gegenüber.

Als Drehbuchstudent erzählen Sie möglicherweise eine Geschichte zunächst nur für sich. Aber Sie werden bald merken, dass Geschichten- erzählen immer ein Ping- Pong ist. Beim Geschichten- erzählen gibt es eine zweite Person, das ist der Zuhörer, oder später im Kino der Zuschauer. Und ohne diese Person war alles umsonst. Viele Dinge, die ein Geschichten- Erzähler macht, sind nur dazu da, um den Zuhörer zu fesseln und zu unterhalten. Wie das gemacht wird, das nennt man heute Drehbuch- Handwerk, aber in Wahrheit ist es ur- ur- alt. Das fing am Lagerfeuer mit den Stammesgeschichten an und erreichte in der griechischen Tragödie ein Niveau, auf das wir uns bis heute berufen. Alles Wesentliche zur Dramen- Theorie ist bereits vor langer Zeit gesagt worden. Es geht nur darum, es weiterzuvermitteln und in Erinnerung zu halten.

Wird die Bedeutung von Drehbuchmodellen überbewertet?

Modelle bringen in der rückwirkenden Analyse viel, aber beim nach vorne gerichteten Schreiben eher wenig. Man kämpft da mit ganz anderen Problemen. Modelle sind etwas für Leute, die gerne über fertige Drehbücher und Filme sprechen. Das Verblüffende daran ist, dass diese Modelle immer schlüssig sind und immer recht haben. Jemand, der mit Leib und Seele Autor ist, wird schon deshalb eine gesunde Distanz dazu wahren, weil er nicht in Routine verfallen will.

Was ist im Vergleich dazu ein konkretes Problem beim Schreiben und wie kann man ihm begegnen?

Viele Anfänger verstehen es nicht, Spannung aufzubauen, egal ob das eine Komödie ist, oder ein Drama. Und viele Autoren haben Schwierigkeiten Motive und Themen durchzuziehen. Ihr Schreiben driftet nach hier und dort, wie ein Segelboot ohne Ruderpinne. Die allerschwerste Frage, die man einem um Ernsthaftigkeit bemühten Autor stellen kann ist: „Worum dreht sich deine Geschichte?“ Seriöse Autoren tun sich mit der Antwort immer schwer. Aber nur wenn man sie irgendwann genau beantworten kann, wird man zu einer dichten Geschichte kommen.


Die allerschwerste Frage, die man einem um Ernsthaftigkeit bemühten Autor stellen kann ist: „Worum dreht sich deine Geschichte?“ Aber nur wenn man sie irgendwann genau beantworten kann, wird man zu einer dichten Geschichte kommen.

Ein Beispiel. Einige Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm sind eine sehr dichte Form von Geschichten. Sie haben eine lange Zeit von mündlicher Übertragung hinter sich und wurden immer wieder verbessert, daher die hohe Verdichtung. Hänsel und Gretel handelt von zwei Kindern, die von ihren Eltern in den Wald geschickt werden, weil die Eltern kein Geld mehr haben, um sie zu ernähren. Diese beiden Kinder haben Brot dabei, das sie Krümel für Krümel ausstreuen, um den Weg nach hause zu finden. Das fressen dann die Vögel auf, die Kinder finden den Weg nicht mehr. Sie kommen zu einem Hexenhaus, das aus Lebkuchen besteht. Sie werden von einer Hexe gefangen, und die mästet den Hänsel, solange, bis er fett genug ist, um gegessen zu werden.
Diese auf den ersten Blick so sprunghafte Geschichte hat sehr eindringliche Motive und ein deutliches Thema: Es geht andauernd um was zu essen, um’s Überleben und um einen Platz, wo man leben kann.
Die zentrale Frage der Geschichte könnte lauten: Was ist nötig, damit die Kinder einen Platz zum Überleben finden? Und man könnte antworten: Gretel muss trotz widrigster Umstände über sich hinauswachsen, sie muss aufhören, ein Kind zu sein und ihr Schicksal in die Hand nehmen.
Wenn man ein Thema so deutlich formulieren kann, dann hält man sehr starke Möglichkeiten für die weitere Drehbuchentwicklung in den Händen. Dann kann man seine Gedanken auf das Wesentliche fokussieren und hört auf, wie ein ruderloses Segelboot hin- und herzudriften.

Aber was hat die Frage des Themas mit der Spannung einer Geschichte zu tun?

Momentane Spannung in einer Szene lässt sich leicht erzeugen. Die lang anhaltende, dauerhafte Spannung über mehrere Sequenzen hinweg kann man nur erzeugen, wenn man ein Thema gefunden hat, das mit einer starken Frage verbunden ist. So wie in Hänsel und Gretel.
Dieses Märchen ist spannend, weil das darunter liegende Thema ständig mit zwei wichtigen Mitteln des Drehbuch- Schreibens lebendig gehalten wird, nämlich mithilfe von Enthüllung und Konflikt. Wenn man sich das vergegenwärtigt, hat man viel begriffen.
Man baut Spannung auf, indem man eine Tatsache enthüllt, die dem Zuhörer vorher verschlossen war, die ihm aber gleichzeitig glaubwürdig und zwingend genug erscheint, dass er dran bleibt und nicht sagt „Diese Schnapsidee, die kauf´ ich Dir jetzt nicht mehr ab, lieber Geschichten- Erzähler“.

Das heißt, die Enthüllungen, die man im Verlauf einer Geschichte präsentiert, haben etwas mit dem Urmaterial der Geschichte zu tun, sie kommen aus demselben Körbchen, oder vom selben Schreibtisch, sie sind nicht plötzlich von einem anderen Schreibtisch geholt. Da wird nicht plötzlich ein neues Fass aufgemacht.

Oft ist es so, dass man eine Geschichte entwickelt und erst nach einigen Wochen oder Monaten wirklich selbst versteht, was man eigentlich erzählen will. Und dann möchte man eigentlich gerne sofort im zweiten Satz alles erzählen, und nicht bis zum Ende des gesamten Drehbuches warten...

Ja. Die Kunst des Hinauszögerns und Variierens. Heute handeln viele Geschichten von Geheimnissen, die sich allmählich enthüllen, die Hauptfiguren sind Detektive ihres eigenen Schicksals, und müssen was über sich herausfinden, um ihre Identität zu finden. Die Lösung des Geheimnisses liegt nicht selten in der eigenen Familie. Ich glaube, dass man sich bei dieser Art von Geschichten nicht nur psychologische Filme anschauen sollte, sondern auch Detektiv- Filme. Wie macht das eine Detektiv- Geschichte, so ein Geheimnis lange am Leben zu erhalten und das Interesse daran wach zu halten? Warum wird das nicht in den ersten 5 Minuten gelöst? Bei einem Film wie Chinatown, wenn man dann mal die Lösung am Ende hat, sagt man, naja, das war ja naheliegend, wenn ich mir diese Charaktere angucke, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen, dass Noah Cross so ein schändlicher Mensch ist? Das hätte Jake Gittes auch früher merken können. Aber die Reise von Jake Gittes zu diesem Punkt war so lang, weil man ihm ganz ordentlich Hindernisse in den Weg gelegt hat, und weil er vorher andere Türen aufschließen musste. Diese naheliegendste und einfachste Tür, direkt um seine Ecke, direkt bei Faye Dunaway, auf die ist er nicht gekommen, weil er die anderen Türen vorher gesehen hat. für das wichtigste war er blind.

Da fällt mir noch etwas ein. Das Märchen Hänsel und Gretel geht ja auch über die Angst vor dem Verhungern, was ja damals auch eine reale Angst der Menschen gewesen ist. Wie wichtig ist es, bei den Geschichten, die man schreibt, aktuell zu sein?

Für unser neues Projekt Krabat kommt es mehr darauf an, einen zeitlosen Mythos zu schildern. Die aktuellen Zeitbezüge können unterschwellig mitschwingen, sollten aber eher im Hintergrund bleiben. Wenn man einen Tatort für das Fernsehen schreibt, ist es gut, Zeitströmungen aufzunehmen. Krimiplots ähneln sich in ihren Motiven, und nur durch das neue Gewand, in das der Plot schlüpft, wird es interessant. Also muss man Zeitung lesen und sich auf dem Laufenden halten, was die Menschen bewegt, was die Gesellschaft bewegt, man muss beide Zeitungen lesen, die seriöse große Tageszeitung und die Boulevard- Zeitung. Aber es ist gerade für einen Drehbuch- Anfänger schwer, Geschichten, die aktuell sind, aufzubereiten. Also zum Beispiel eine Geschichte über Korruption in der Wirtschaft, im Fernsehen oder in der Politik. Man scheitert da manchmal an der Komplexität des Themas. Es sind viele Figuren involviert, wenn es um Korruption geht. Man bewegt sich an Handlungsschauplätzen, die man gar nicht kennt, weil man da noch nie war, man fängt an, Figuren zu erfinden, von denen man nicht die geringste Ahnung hat, wie zum Beispiel ein Bauunternehmer und ein Bürgermeister. Man weiß nicht, wie diese Leute ticken...

...das kennt man doch alles aus dem Fernsehen...

...Ja, das sind manchmal Klischee- Figuren. Es ist schlau, am Anfang Figuren zu schreiben, bei denen man spürt, dass man sie in den Griff kriegen kann. Wir alle kennen Töchter und Mütter, Väter und Söhne oder Geschwister. Darüber können wir vielleicht etwas erzählen und landen dann nicht bei irgendwelchen Klischees. Sicherlich können wir auch etwas erzählen über den Schmerz einer Trennung, das Glück einer ersten Liebe, oder über den Mangel an Geld, und die Verzweiflung, wenn man keinen Job hat, das kennen junge Leute sicher auch. Oder man kennt jemanden, dem alles gelingt, und einem selbst gelingt überhaupt nichts, man scheitert scheinbar an den kleinsten Kleinigkeiten, während dem anderen alles zufliegt. Ein solches Problem, wenn man es kennt, kann man dann auf andere Konstellationen übertragen.

Einerseits sollte man nicht andauernd über sich selbst schreiben, sondern schauen, was einem in der Umgebung auffällt an menschlichen Konflikten, und was man dann in eine Geschichte übertragen könnte. Und andererseits sollte man sehr vorsichtig sein mit Vermutungen, die man am Reißbrett zusammenkonstruiert. Es gibt manche Geschichte, die erzählt man besser erst, wenn man älter geworden ist. Die Krise eines Mannes um die 60, das schildert man, wenn man mehr Leute in dem Alter getroffen hat. Die Zuschauer erwarten vom Drehbuchautor, dass er viel über menschliches Handeln und über die Beweggründe weiß.

Noch eine Frage: kennen Sie Agenturen, die gerne mit jungen Autoren zusammenarbeiten?

Es gibt Autoren-Agenturen, die nach Talenten Ausschau halten, so zum Beispiel „Above the Line“. Aber es ist sinnlos mit einer Agentur Kontakt aufnehmen zu wollen, wenn man noch nichts vorzuweisen hat. Bei uns ticken die Uhren noch immer langsam. Man bekommt erst dann einen Job, wenn man einen Erfolg hatte. Manchmal führt der Weg nur darüber, dass man sich zusammentut mit einem Regie- Studenten, der verzweifelt gerne einen Film drehen würden, aber keinen Stoff hat. Der Weg über die Agenturen, Fernseh- Sender oder Produktionsfirmen, der ist sehr weit. Das Drehbuch liegt unter Umständen lange auf den Schreibtischen, bevor man eine Antwort bekommt. In der Zwischenzeit sollte man nicht warten, sondern versuchen, Erfahrungen zu sammeln. Dazu braucht man eine DV- Kamera und einen Kreis von jungen Filmemachern, die gegen alle Widerstände Filme drehen wollen.
Ich sage sicher nichts Neues, wenn ich feststelle, dass gute Drehbücher nicht lange unentdeckt bleiben. Ein gutes Buch findet irgendwann seinen Weg. Aber meistens haben junge Autoren nicht das, was man in der Branche ein „gutes Buch“ nennt. Ihre Drehbücher haben Schwächen und Vorzüge, sie sind sehr eigenwillig oder – das Gegenteil davon – auf eine naive Weise sehr Markt- konform. Man muss mehrere Drehbücher geschrieben und einige Jahre damit verbracht haben, um eine gewisse Professionalität zu erreichen.
Zum Glück warten nicht alle Produzenten auf den Stoff, den ihnen der Fernsehsender sofort aus der Hand reißt. Einige sind bereit, etwas auszuprobieren. Diese Firmen entdeckt man, wenn man den Markt aufmerksam beobachtet und sich die Filme ansieht. Wenn es dann soweit ist, dass man schließlich einen Kontakt hat, dann wird viel Geduld benötigt. Beide Seiten müssen Geduld miteinander haben, die Autoren und die Produzenten. Erst wenn man sich etwas besser kennengelernt hat und einander vertraut, beginnt die ernsthafte Stoffentwicklung. Alles andere bleibt nur an der Oberfläche, und davon haben wir bereits genug.