Das Baby
von
Rüdiger Leupold



  
Margaret war dabei, ihre Wohnung aufzugeben. Die Möbelpacker waren da und verluden ihr Inventar in einen kleinen Möbelwagen zum selberfahren. Es waren auffallend viele Babymöbel darunter. 

Gerade, als Margaret endgültig die Wohnung verlassen wollte, wurde sie von einer weiblichen Stimme angesprochen. Die Besucherin war einfach durch die offene Tür eingedrungen und stand plötzlich vor ihr. 

"Frau Margaret Schlacke?", sagte sie mehr feststellend, als fragend. "Mein Name ist Veronika Scheuermann. Ich komme von der Schulverwaltungsbehörde, und ich bin wirklich froh, Sie endlich gefunden zu haben. Sie glauben ja nicht, wie oft ich schon versucht habe, Sie zu treffen, aber jedesmal, wenn ich zu der Wohnung kam, wo Sie laut meinen Unterlagen gemeldet waren, wohnte jemand anders dort, und Sie waren kurz vorher ausgezogen. Ja, und wie es scheint, hätte ich beinah wieder Pech gehabt. Deswegen freue ich mich doppelt, Sie endlich persönlich zu treffen." 

Margaret erbleichte. 

Nach den Unterlagen der Schulverwaltungsbehörde hatte Margaret ein schulpflichtiges Kind, das laut Geburtsurkunde jetzt neun Jahre alt war. Doch seit drei Jahren war es bei keiner Schule angemeldet worden. Frau Scheuermann war gekommen, um nach dem Verbleib des Kindes zu forschen. Lebte es vielleicht im Ausland, beim Vater? Oder in einem Internat? 
Oder, aber das glaube sie nicht, denn es sei ja nicht erlaubt, erziehe Frau Schlacke das Kind selbst? Fragen über Fragen. 

Margaret verstand nicht, wovon Frau Scheuermann eigentlich sprach. Es handelte sich bestimmt um ein Mißverständnis, war sie überzeugt. Ihre kleine Tochter-   "Tochter?", fragte Frau Scheuermann. "In meiner Akte steht, daß am 5. Juni 1984 ein Thomas Schlacke auf die Welt gekommen sei, ein Junge." 

"Sehen Sie, Ihre Unterlagen sind falsch", antwortete Margaret. "Das habe ich schon die ganze Zeit über vermutet. Ich habe keinen Sohn, sondern eine Tochter, und sie ist nicht am 1984 auf die Welt gekommen und ist nicht schulpflichtig. Meine Tochter liegt nämlich nebenan im Kinderwagen!" 
Die beiden Frauen gingen ins Nebenzimmer. 

Die Wohnung war inzwischen leergeräumt. In einer Ecke stand tatsächlich ein Kinderwagen, und die leisen Schlafgeräusche eines Babys waren zu vernehmen. Auf der Tapete an der Wand direkt neben dem Kinderwagen waren Spritzflecke von heruntergelaufener Babymilch. 

Nach einigem ratlosen Hinundherwedelen mit ihren Blättern und Margarets Erwiderungen, die aus ihren mitleidigsten Blicken bestanden, war Frau Scheuermann schließlich doch überzeugt, daß die Unterlagen irgendeinen Fehler enthielten. Sie verabschiedete sich. 
Schon halb draußen fiel ihr noch etwas ein. 

"Nachdem ich soviel von der kleinen Anne gehört habe, möchte ich sie doch zum Abschied wenigstens einmal kurz ansehen. Wissen Sie",  und dabei zeigte sie auf ihren Bauch, der gerundet war, "ich erwarte nämlich selber Nachwuchs. Im Mai." 

Margaret bekam eine Gänsehaut, als sie den geblähten Bauch sah, doch sie ließ sich nichts anmerken. 

"Wie schön für Sie", sagte sie kalt. "Na, dann wollen wir uns den kleinen Wonneproppen mal anschauen. Aber wecken Sie ihn nicht. Kommen Sie, rüber zum Kinderwagen." 

Veronika und Margaret gingen zum Kinderwagen. Margaret schob Veronika leicht vor sich her. "So, ziehen Sie jetzt ruhig die Decke zurück, aber bitte ganz vorsichtig. Das Kind braucht den Schlaf." 

Veronika nahm einen Zipfel der Decke und zog daran, bis sie sich langsam hob und das darunter liegende Kind enthüllte. Veronika sah in den Kinderwagen. Der Himmel hatte ein Blumenmuster. 

Plötzlich zuckte sie am ganzen Körper und sackte in sich zusammen. Sie wollte schreien, mußte sich aber übergeben und schlug ihre Hand vor den Mund. 

Gleichzeitig schnellte sie wie von einer Feder getrieben wieder hoch und blickte mit angsterfüllten Augen Margaret an. Die Babydecke entglitt ihrer Hand und rutschte zurück in den Wagen. 
Sie mußte sich plötzlich ihren schwangeren Bauch halten. Offensichtlich hatte sie Schmerzen 

In ihrer aufkommenden Panik suchte sie einen Platz, wo sie hinspeien konnte;  gleichzeitig gingen ihr schreckliche Gedanken durch den Kopf, bekam sie Angst vor dem Ungeheuerlichen. Sie faßte sich erneut an ihren eigenen dicken Bauch. 

"Geht es Ihnen nicht gut?", fragte Margaret fürsorglich. "Wollen Sie vielleicht ein Glas Wasser? Kommen Sie erstmal mit ins Badezimmer, Sie sehen ja ganz blaß aus, wie eine Leiche." 

Sie griff der bleichen Veronika unter die Arme und half ihr so ins Bad. Veronika geriet in Panik und wollte raus aus der Wohnung, so schnell wie möglich, doch Margaret hielt sie fest. Sie war erstaunlich stark. 

Mit dem rechten Arm klammerte sie Veronika um den Hals und hielt ihr mit der Hand den Mund zu. Gleichzeitig drehte sie mit der linken Hand den Wasserhahn des Waschbeckens auf, und ließ Wasser ins Becken laufen. Der Stöpsel steckte im Abfluß. 

Als genügend Wasser hineingelaufen war, griff Margaret plötzlich mit beiden Händen fest um Veronikas Hals, und drückte zu. Veronika rang nach Luft, doch sie war voller Angst, und das Würgegefühl und die übermenschliche Stärke Margarets ließen ihr keine Chance. Immer tiefer  drückte Margaret ihr Gesicht in das Becken bis sie es schon mit der Nase berührte. In dem Moment konnte sie das Würgegefühl nicht mehr unterdrücken und spuckte ihren Mageninhalt ins Wasser. Es roch scheußlich. 
Margaret drückte jetzt fest zu und stieß Veronikas Kopf in die ekelige Brühe, bis das Gesicht versank. Sie preßte ihren Kopf unerbittlich unter Wasser. 

Durch das Erbrechen hatte Veronika ihre Lungen leergepumpt und schnappte reflexartig nach Luft. 

Das beschleunigte nur das Unvermeidliche, denn anstelle von Luft konnte sie nur Wasser in ihre Lungen saugen. Nur Augenblicke später erschlaffte ihr Körper. 
Sie, und damit auch ihr ungeborenes Kind, starben einen qualvollen, unbarmherzigen Tod. 

Margaret ließ den Körper der Frau in die Badewanne gleiten. 
Dann wusch sie sich die Hände, und wischte sie sich am Pullover der Toten trocken. 

"Hatte ja schöne Brüste", ging ihr beiläufig durch den Kopf, als sie die Leiche schon in einen der herumliegenden Umzugskarton verstaut hatte. Sie ging zum Fenster und machte es auf. Unten verschlossen die Arbeiter gerade den Wagen. Margaret lehnte sich raus und rief: "Halt, Sie haben noch einen Karton vergessen. Der muß noch eingeladen werden", rief sie zu ihnen hinunter. 

Einer der Arbeiter kam herauf und trug den Karton nach unten in den Wagen. Margaret gab ihm den Lohn für alle und ihm noch ein kleines Extratrinkgeld. 
Danach verabschiedeten sich die Schwarzarbeiter, ohne weitere Fragen zu stellen. 

Die Wohnung war jetzt leer. Gleich würde Margaret in den Wagen steigen, unterwegs den Karton mit der Leiche in einem See versenken, und in ihre neue Wohnung fahren. 

Niemand kannte sie, den Möbelwagen fuhr sie selbst, die Miete der alten Wohnung war bezahlt, der Mietvertrag gelöst, die neue Wohnung unter einem falschen Namen gemietet, ihre Spur verwischt. 

Sie lächelte. 
Doch ihr Gesicht drückte keine Freude aus, es lag etwas Unbestimmbares, etwas Irres in ihren Augen. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, die sie nicht verstand. Sie schloß die Augen kurz, bis der Anfall vorüber war. 
Sie kannte das, und es machte ihr schon lang keine Angst mehr. 

Margaret ging zum Kinderwagen. Sie beugte sich über das in Decken gewickelte Bündel und griff hinein. Nachdem sie kurz unter den Decken getastet hatte, fand sie, wonach sie suchte und holte es heraus. Es war ein Cassettenrecorder. Sie betätigte die Stopptaste des Recorders. Augenblicklich verstummten die Babygeräusche. Sie blickte in den Wagen, und hob die Decke. 
Ihre Augen bekamen einen lieblichen, von Mutterglück erfüllten Glanz. 

Ja, sie liebte es wirklich, heiß und innig, und es bedeutete ihr alles, ihr ganzes Leben. Nichts war so wichtig für sie, wie ihr Kind. Behutsam nahm sie es in die Arme und schaukelte es sanft. Sie berührte den kleinen Kopf und küßte ihn zart. Dann legte sie es zurück und deckte die Decke drüber. Über den Kopf zog sie ein himmelblaues, selbstgestricktes Mützchen mit einer kleinen roten Bommel. Sie zog die Decke ganz über den kleinen Körper, bis nur noch der rote Ballen zu sehen war. 

Ja, sie liebte es wirklich, das kleine, braun und brüchig gewordene, vermoderte Skelett. 

(c) Rüdiger Leupold