Das
Baby
Gerade, als Margaret endgültig die Wohnung verlassen wollte, wurde sie von einer weiblichen Stimme angesprochen. Die Besucherin war einfach durch die offene Tür eingedrungen und stand plötzlich vor ihr. "Frau Margaret Schlacke?", sagte sie mehr feststellend, als fragend. "Mein Name ist Veronika Scheuermann. Ich komme von der Schulverwaltungsbehörde, und ich bin wirklich froh, Sie endlich gefunden zu haben. Sie glauben ja nicht, wie oft ich schon versucht habe, Sie zu treffen, aber jedesmal, wenn ich zu der Wohnung kam, wo Sie laut meinen Unterlagen gemeldet waren, wohnte jemand anders dort, und Sie waren kurz vorher ausgezogen. Ja, und wie es scheint, hätte ich beinah wieder Pech gehabt. Deswegen freue ich mich doppelt, Sie endlich persönlich zu treffen." Margaret erbleichte. Nach
den Unterlagen der Schulverwaltungsbehörde hatte Margaret
ein schulpflichtiges Kind, das laut Geburtsurkunde jetzt neun
Jahre alt war. Doch seit drei Jahren war es bei keiner Schule
angemeldet worden. Frau Scheuermann war gekommen, um nach dem
Verbleib des Kindes zu forschen. Lebte es vielleicht im Ausland,
beim Vater? Oder in einem Internat?
Margaret verstand nicht, wovon Frau Scheuermann eigentlich sprach. Es handelte sich bestimmt um ein Mißverständnis, war sie überzeugt. Ihre kleine Tochter- "Tochter?", fragte Frau Scheuermann. "In meiner Akte steht, daß am 5. Juni 1984 ein Thomas Schlacke auf die Welt gekommen sei, ein Junge." "Sehen
Sie, Ihre Unterlagen sind falsch", antwortete Margaret. "Das
habe ich schon die ganze Zeit über vermutet. Ich habe keinen
Sohn, sondern eine Tochter, und sie ist nicht am 1984 auf die
Welt gekommen und ist nicht schulpflichtig. Meine Tochter liegt
nämlich nebenan im Kinderwagen!"
Die Wohnung war inzwischen leergeräumt. In einer Ecke stand tatsächlich ein Kinderwagen, und die leisen Schlafgeräusche eines Babys waren zu vernehmen. Auf der Tapete an der Wand direkt neben dem Kinderwagen waren Spritzflecke von heruntergelaufener Babymilch. Nach
einigem ratlosen Hinundherwedelen mit ihren Blättern und
Margarets Erwiderungen, die aus ihren mitleidigsten Blicken
bestanden, war Frau Scheuermann schließlich doch überzeugt,
daß die Unterlagen irgendeinen Fehler enthielten. Sie
verabschiedete sich. "Nachdem ich soviel von der kleinen Anne gehört habe, möchte ich sie doch zum Abschied wenigstens einmal kurz ansehen. Wissen Sie", und dabei zeigte sie auf ihren Bauch, der gerundet war, "ich erwarte nämlich selber Nachwuchs. Im Mai." Margaret bekam eine Gänsehaut, als sie den geblähten Bauch sah, doch sie ließ sich nichts anmerken. "Wie schön für Sie", sagte sie kalt. "Na, dann wollen wir uns den kleinen Wonneproppen mal anschauen. Aber wecken Sie ihn nicht. Kommen Sie, rüber zum Kinderwagen." Veronika und Margaret gingen zum Kinderwagen. Margaret schob Veronika leicht vor sich her. "So, ziehen Sie jetzt ruhig die Decke zurück, aber bitte ganz vorsichtig. Das Kind braucht den Schlaf." Veronika nahm einen Zipfel der Decke und zog daran, bis sie sich langsam hob und das darunter liegende Kind enthüllte. Veronika sah in den Kinderwagen. Der Himmel hatte ein Blumenmuster. Plötzlich zuckte sie am ganzen Körper und sackte in sich zusammen. Sie wollte schreien, mußte sich aber übergeben und schlug ihre Hand vor den Mund. Gleichzeitig
schnellte sie wie von einer Feder getrieben wieder hoch und
blickte mit angsterfüllten Augen Margaret an. Die Babydecke
entglitt ihrer Hand und rutschte zurück in den Wagen.
In ihrer aufkommenden Panik suchte sie einen Platz, wo sie hinspeien konnte; gleichzeitig gingen ihr schreckliche Gedanken durch den Kopf, bekam sie Angst vor dem Ungeheuerlichen. Sie faßte sich erneut an ihren eigenen dicken Bauch. "Geht es Ihnen nicht gut?", fragte Margaret fürsorglich. "Wollen Sie vielleicht ein Glas Wasser? Kommen Sie erstmal mit ins Badezimmer, Sie sehen ja ganz blaß aus, wie eine Leiche." Sie griff der bleichen Veronika unter die Arme und half ihr so ins Bad. Veronika geriet in Panik und wollte raus aus der Wohnung, so schnell wie möglich, doch Margaret hielt sie fest. Sie war erstaunlich stark. Mit dem rechten Arm klammerte sie Veronika um den Hals und hielt ihr mit der Hand den Mund zu. Gleichzeitig drehte sie mit der linken Hand den Wasserhahn des Waschbeckens auf, und ließ Wasser ins Becken laufen. Der Stöpsel steckte im Abfluß. Als
genügend Wasser hineingelaufen war, griff Margaret plötzlich
mit beiden Händen fest um Veronikas Hals, und drückte
zu. Veronika rang nach Luft, doch sie war voller Angst, und das
Würgegefühl und die übermenschliche Stärke
Margarets ließen ihr keine Chance. Immer tiefer
drückte Margaret ihr Gesicht in das Becken bis sie es schon
mit der Nase berührte. In dem Moment konnte sie das
Würgegefühl nicht mehr unterdrücken und spuckte
ihren Mageninhalt ins Wasser. Es roch scheußlich.
Durch das Erbrechen hatte Veronika ihre Lungen leergepumpt und schnappte reflexartig nach Luft. Das
beschleunigte nur das Unvermeidliche, denn anstelle von Luft
konnte sie nur Wasser in ihre Lungen saugen. Nur Augenblicke
später erschlaffte ihr Körper.
Margaret
ließ den Körper der Frau in die Badewanne gleiten.
"Hatte ja schöne Brüste", ging ihr beiläufig durch den Kopf, als sie die Leiche schon in einen der herumliegenden Umzugskarton verstaut hatte. Sie ging zum Fenster und machte es auf. Unten verschlossen die Arbeiter gerade den Wagen. Margaret lehnte sich raus und rief: "Halt, Sie haben noch einen Karton vergessen. Der muß noch eingeladen werden", rief sie zu ihnen hinunter. Einer
der Arbeiter kam herauf und trug den Karton nach unten in den
Wagen. Margaret gab ihm den Lohn für alle und ihm noch ein
kleines Extratrinkgeld. Die Wohnung war jetzt leer. Gleich würde Margaret in den Wagen steigen, unterwegs den Karton mit der Leiche in einem See versenken, und in ihre neue Wohnung fahren. Niemand kannte sie, den Möbelwagen fuhr sie selbst, die Miete der alten Wohnung war bezahlt, der Mietvertrag gelöst, die neue Wohnung unter einem falschen Namen gemietet, ihre Spur verwischt. Sie
lächelte. Margaret
ging zum Kinderwagen. Sie beugte sich über das in Decken
gewickelte Bündel und griff hinein. Nachdem sie kurz unter
den Decken getastet hatte, fand sie, wonach sie suchte und holte
es heraus. Es war ein Cassettenrecorder. Sie betätigte die
Stopptaste des Recorders. Augenblicklich verstummten die
Babygeräusche. Sie blickte in den Wagen, und hob die Decke.
Ja, sie liebte es wirklich, heiß und innig, und es bedeutete ihr alles, ihr ganzes Leben. Nichts war so wichtig für sie, wie ihr Kind. Behutsam nahm sie es in die Arme und schaukelte es sanft. Sie berührte den kleinen Kopf und küßte ihn zart. Dann legte sie es zurück und deckte die Decke drüber. Über den Kopf zog sie ein himmelblaues, selbstgestricktes Mützchen mit einer kleinen roten Bommel. Sie zog die Decke ganz über den kleinen Körper, bis nur noch der rote Ballen zu sehen war. Ja, sie liebte es wirklich, das kleine, braun und brüchig gewordene, vermoderte Skelett. (c)
Rüdiger Leupold |